Kristina Kühnbaum-Schmidt
Présidente du Comité national allemand de la Fédération Luthérienne Mondialebiographie
Hochverehrte Anwesende, Eminenzen und Exzellenzen,
Schwestern und Brüder, sehr geehrte Damen und Herren,
„Es scheint, als wäre nichts mehr an der Tagesordnung als ein Denken der Gemeinschaft … und dennoch ist nichts so wenig in Sicht. Nichts was so weit weg wäre, so verdrängt, so verschoben auf eine Zeit, die einst kommen mag, auf einen fernen und unentzifferbaren Horizont.“ Diese Sätze des italienischen Philosophen Roberto Esposito sind gut 25 Jahre alt, haben aber an Aktualität nichts eingebüßt; im Gegenteil, mir erscheinen sie sogar noch aktueller denn je. Hier in Deutschland wird die Suche nach und die Debatte über Gemeinschaft häufig verbunden mit der Forderung nach „gesellschaftlichem Zusammenhalt“, ohne zu wissen, wie genau der entwickelt, neu gefunden, praktiziert werden soll.
Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und in dessen Folge eine weltweite Nahrungsmittelkrise, die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels auch im Blick auf Fluchtbewegungen und Migration - sie zeigen uns gleichermaßen unsere Verletzlichkeit wie unsere Verbundenheit und gegenseitige Abhängigkeit in einer globalisierten Welt. Eine Situation, die zutreffend als „Polykrise“ beschrieben werden kann: einzelne Krisen existieren nicht einfach nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Darauf zu reagieren stellt weltweit vor neue Herausforderungen - zugleich aber verbieten sich angesichts der Komplexität einfache Antworten und simple Gewissheiten.
All das und insbesondere die katastrophalen Folgen des menschengemachten Klimawandels machen klar: Ein weiter so wie bisher wird es nicht geben. Und was in einem Teil der Welt geschieht, hat gravierende Auswirkungen auch auf alle anderen. Die großen Herausforderungen vor denen wir stehen, sind globale Herausforderungen. Sie erfordern, dass wir schnell und entschlossen handeln. Und dafür ist nicht Konkurrenz untereinander, sondern Kooperation miteinander nötig. In unserer Gesellschaft ebenso wie zwischen den Religionen und Konfessionen und über deren jeweilige Grenzen hinweg. Die gegenwärtigen Herausforderungen können wir nur gemeinsam und in globaler Verantwortungsgemeinschaft bewältigen. Wir brauchen deshalb eine Ethik der Kooperation und des Vertrauens, einen globalen Gemeinsinn. Dabei spielen Zusammenkünfte wie dieses internationale Friedenstreffen von Sant’ Egidio eine wichtige Rolle - weil sie über Grenzen von Nationen und Religionen hinweg einen globalen Gemeinsinn befördern, weil sie beitragen zu Vertrauen und so dringend nötiger Kooperation.
Inmitten der globalen Klimakrise geht es zudem nicht mehr nur um eine allein an menschlichen Bedürfnissen orientierte nachhaltige Nutzung von Natur und Umwelt, sondern um eine alles Leben betreffende Bewohnbarkeit unseres Planeten. Es geht auch um unsere menschliche Verantwortung gegenüber nichtmenschlichen Wesen. Als Bischöfin einer christlichen Kirche sage ich: wie wir uns zur Bewahrung des Lebens auf unserer Erde verhalten, ist entscheidend auch eine Frage unseres christlichen Glaubens und einer sich daran orientierenden Lebensweise. Der achtsame Umgang mit anderen Mitgeschöpfen und mit der Umwelt und die Erkenntnis, dass menschliches Leben auch mit dem Wohlergehen von Tieren und Pflanzen zusammenhängt, kommt ebenso in vielen weiteren religiösen Traditionen, deren Vertreterinnen und Vertreter hier beim Treffen in Berlin versammelt sind, zum Ausdruck. In der Tradition des christlichen Glaubens ist Franz von Assisi und seine Wirkungsgeschichte dafür ein gutes Beispiel. Die päpstliche Enzyklika „Laudato si“, die nach einem Lobgesang des Gründers und Namensgebers des Franziskanerordens benannt wurde, spricht von ökologischer Umkehr und Spiritualität. Die ökologische Krise, so sieht es die Enzyklika, erfordere das Zusammenwirken aller Religionen und aller Wissenschaften im Einsatz für das Gemeinwohl.
Wie kann so ein konstruktives und überlebensnotwendiges Zusammenwirken gelingen? Genau genommen ist ja alles vorhanden, um zu einer gemeinsamen Abwehr der Bedrohung zu schreiten. Das Wissen und das Know How sind vorhanden. Die weltweiten Informations- und Kommunikationswege sind geschaffen. Internationale Plattformen und diplomatische Erfahrungen für Länder- und Kontinente übergreifende Aktionen und Maßnahmen existieren ebenfalls. Nicht zuletzt gibt es auch global vernetzte Religionsgemeinschaften, die zudem seit einigen Jahrzehnten – im Christentum spätestens seit den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts – auch den Dialog zu Angehörigen anderer Religionen in der Welt suchen und pflegen. Ich denke da zum Beispiel an die Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, aber auch an die Dialogprogramme auf der Ebene des Ökumenischen Rates der Kirchen, des Lutherischen Weltbundes und vieler weiterer Kirchenbünde.
Der Lutherische Weltbund etwa veröffentlicht gerade in diesen Tagen mit Blick auf die kommende Vollversammlung in Krakau ein Studiendokument, das sich mit dem Verhältnis zum Judentum befasst. Es trägt den Titel: „Hoffnung für die Zukunft“. Auch Religionsgemeinschaften wie das Christentum mit all seinen konfessionellen Schattierungen haben einen Lernprozess im Umgang mit den sogenannten nicht christlichen Religionen durchlaufen. Erst allmählich und für viele zu langsam haben Religionsvertreterinnen und -vertreter gemerkt, dass die Schätze und Geheimnisse, die es in den einzelnen Glaubenstraditionen zu entdecken gibt, miteinander geteilt werden können, dass das, was in den anderen Religionen gut und wahr ist, auch wertgeschätzt werden darf. Aus christlicher Sicht gilt das zuallererst für das Judentum, mit dem das Christentum eine gemeinsame Wurzel und eine gemeinsame Schrift teilt, aber selbstverständlich auch für die anderen Religionen.
Die vorhandenen Dialoge und die zahlreichen Kooperationen, die mittlerweile an vielen Orten der Welt zwischen den Religionen existieren, geben in der Tat Anlass zur Hoffnung. Wir brauchen keine universale Einheitsreligion und keine globale Spiritualität, aber doch das Bewusstsein, dass wir in den wichtigen Fragen des Lebens, und insbesondere dann, wenn es ums gemeinsame Überleben geht, aufeinander angewiesen sind und miteinander ins Gespräch kommen und kooperieren müssen.
Hier, das ist meine feste Überzeugung, können die Religionen der Welt einen wichtigen Beitrag leisten, gerade auch im Blick auf „Fragmentierung“ und „Desorientierung“, den beiden Stichworten, die diesem Podium als Überschrift dienen. Dabei bin ich mir allerdings nicht ganz sicher, wie das Verhältnis von Globalisierung, Fragmentierung und Desorientierung genauer zu beschreiben ist. Handelt es sich bei den letzteren Begriffen wirklich um die andere, gleichsam die Schattenseite der Globalisierung? Kann nicht gerade auch der Ausstieg und der Rückzug aus der Globalisierung zu Desorientierung und Fragmentierung führen? Gab und gibt es Fragmentierung und Desorientierung nicht auch unabhängig von Globalisierung? Vielleicht eine Frage für die anschließende Diskussion.
Aber lassen Sie mich abschließend noch zwei weitere Gedanken nennen, die mir sehr am Herzen liegen. Die Begegnung zwischen Kulturen hat in der Vergangenheit nicht selten verheerende Folgen gezeitigt, insbesondere dann, wenn sie nicht einvernehmlich geschah, sondern erzwungen wurde und mit Gewalt, Ausbeutung und Herrschaft der einen über die anderen verbunden war. Viele Länder des globalen Nordens befinden sich immer noch in der Phase der Nach- und Aufarbeitung ihres kolonialen Erbes. Einem von Macht und Triumphalismus bestimmten Umgang mit Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung und Herkunft müssen wir selbstkritisch und lernbereit eine deutliche Absage erteilen. Das Recht des Stärkeren, des Reicheren, des Mächtigeren darf nicht weiter bestehen oder neu Einzug halten. Die Würde eines Menschen, jedes Menschen ist unantastbar. Dazu trägt bei, wenn wir uns friedlich, gleichberechtigt und lernbereit auf den Weg machen, so wie in diesen Tagen beim Friedenstreffen von Sant’Egidio.
Wo Menschen Fragmentierung und Desorientierung erleben, ist die Sehnsucht nach Trost, nach Verständnis und Solidarität groß. Und ebenso die Sehnsucht nach Lust und Liebe zum Leben, zu allem Lebendigen, zu einem Leben in der Fülle dessen, was aus meiner Glaubensüberzeugung heraus Gott uns schenkt und freigiebig mit uns teilt. Als trostbedürftige und zum Trösten befähigte Wesen suchen wir Sorgen und Schmerz miteinander zu teilen, sie erträglicher zu machen. In der Sprache meines christlichen Glaubens sage ich es so: Wir dürfen sie teilen mit Christus, der sie mit uns und für uns tragen will.
Unsere menschlichen Lieblosigkeiten von gestern zwingen uns zu nichts, vor allem nicht dazu, sie zu wiederholen oder fortzusetzen. Denn nicht um die Fortsetzung von Vergangenheit und Gegenwart geht es im christlichen Glauben, sondern um Gottes Zukunft, die auf uns zukommt. Ich plädiere deshalb dafür, eine Kultur der Fürsorge und des Aufeinander-Achtens zu fördern. Damit wir Wege finden, das Leben auf diesem Planeten zu behüten und zu bewahren. Damit wir neu lernen, was es heißt, in Verbindung zu leben - mit Gott und seiner Schöpfung. Und damit wir nicht vergessen: „Wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24).