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Ambrogio Spreafico

Evêque catholique, Italie
 biographie
Das Thema, mit dem wir uns befassen, könnte auf vielerlei Arten angegangen werden. Denn das Wort Gottes, das für uns Christen in seiner Hauptquelle, der Bibel, zusammengefasst ist, hat vielen Generationen auf kreative Weise Antworten gegeben, die ihnen geholfen haben, sich in den verschiedenen Epochen der Geschichte zurechtzufinden. Wenn man die Bibel liest, ist es besonders erstaunlich, wie in schwierigen Zeiten Männer und Frauen auftraten, die unvorstellbare Neuerungen eingeführt haben, um die Lebenserfahrung des Volkes Gottes radikal zu verändern. Es scheint fast paradox, wie Gott immer wieder Menschen beruft, die in der Begrenztheit ihres Lebens durch das Hören auf sein Wort unerwartete Veränderungen bewirken. Über diesen Aspekt möchte ich mit Ihnen nachdenken, nicht zuletzt, weil wir uns in einer Welt befinden, in der sich Pessimismus, Resignation oder Verschlossenheit in der eigenen Lebenswelt breitmachen, und somit jenes „Ich“ dominiert, das jede Aussicht auf Veränderung verliert oder allenfalls Ansprüche und Erwartungen weckt, die nur die anderen und nie sich selbst betreffen. Man könnte den bekannten Satz von Martin Buber zitieren: „Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich mich um nichts anderes in der Welt als um diesen Beginn zu bekümmern. Jede andere Stellungnahme lenkt mich von meinem Beginnen ab, schwächt meine Initiative dazu, vereitelt das ganze kühne und gewaltige Unternehmen. Der archimedische Punkt, von dem aus ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst; setze ich anstatt seiner zwei archimedische Punkte, den hier in meiner Seele und den dort in der Seele meines mit mir im Konflikt stehenden Mitmenschen, dann entschwindet mir alsbald der eine, in den sich mir eine Sicht eröffnet hatte“ (Der Weg des Menschen). Ich erinnere nur daran, dass die ersten Worte Jesu im Markusevangelium lauten: „Kehrt um!“, das heißt: Ändert euch!  Oder man könnte den Anfang des dritten Kapitels des ersten Buches Samuel zitieren, in dem bitter festgestellt wird: „In jenen Tagen waren Worte des HERRN selten; Visionen waren nicht häufig.“ 
 
Der erste Aspekt, auf den ich gerade in Bezug auf die Worte aus dem Buch Samuel hinweisen möchte, ist der folgende: Das Wort Gottes hilft, Zeit und Geschichte zu entschlüsseln. Es ist also ein Gedanke und eine Vision. Wie sollen wir die Zeit, in der wir leben, deuten? Heute ist es leicht, den ständigen Nachrichten zu folgen, die uns in den sozialen Netzwerken übermittelt werden und die uns über Ereignisse verschiedenster Art informieren, vom Krieg in der Ukraine bis hin zu trivialeren oder sogar unbedeutenden Nachrichten über den Wandel der Geschichte. Das Paradoxe daran ist, dass Nachrichten umso wahrer zu sein scheinen, je mehr sie durch Likes geteilt werden. Wir gewöhnen uns daher an Interpretationen, die nicht in die Tiefe der Geschichte gehen, und geben uns mit dem zufrieden, was in den Nachrichten so erscheint, wie es kommuniziert wird. Dabei wird nicht nach dem Warum gefragt, es wird sich nicht die Mühe gemacht, die historischen und menschlichen Ursachen zu ergründen. Solange es sich um eine Angelegenheit unter Freunden handelt, mag dies nicht so schwerwiegend erscheinen, aber wenn geopolitische Faktoren im Spiel sind, wie es bei den Beziehungen zwischen Völkern und Ländern der Fall sein kann, dann kann dies zur Grundlage für Entscheidungen werden, die nicht der Realität entsprechen, die wir analysieren und der wir gegenüberstehen. 
 
Die Bibel ist in dieser Hinsicht der Kompass, der es uns ermöglicht, in die Tiefen der Geschichte einzudringen, indem sie uns Worte zur Verfügung stellt, die ihre Bedeutung enthüllen und uns die Zukunft erahnen lassen und sie verheißen. Am deutlichsten wird dies in der Prophetie, wobei immer zu bedenken ist, dass der Prophet der Bibel nicht derjenige ist, der die Zukunft „voraussieht“, sondern eher derjenige, der in der Erinnerung an die Vergangenheit die Gegenwart interpretiert und sich die Zukunft vorzustellen weiß, um dann die Menschen aufzufordern, diese Zukunft aufzubauen. Sacks schreibt: „Der Prophet warnt, er sagt nicht voraus. Die kommende Zeit ist die Frucht unserer heutigen Entscheidungen. Für Propheten ist die Zeit nicht die unergründliche Entfaltung eines Schicksals, sondern der Ort der menschlichen Freiheit als Antwort auf Gottes Ruf“ (Jonathan Sacks, Nicht im Namen Gottes, S. 155). 
 
In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Beispiele anführen:
Das erste geht vom dritten Kapitel des oben zitierten ersten Buches Samuel aus. Wir befinden uns an einem Wendepunkt in der Geschichte des Volkes Israel, das sich von einer Ansammlung von Gruppen (Stämmen), die sich im Land Kanaan befanden und von charismatischen und als Richter bezeichneten Persönlichkeiten geleitet wurden, zu einer Einheit unter einem König entwickelt. Samuel ist ein junger Mann, der dem Priester Eli im Tempel von Schilo diente. Er wurde von Gott gerufen und erkannte nur mit Mühe, dass es dessen Stimme war. Es war der Beginn eines Epochenwandels: Das Wort Gottes machte durch diesen jungen Mann, der die prophetische Sendung und die Aufgabe der Leitung annahm, einen Neuanfang möglich. Dabei zeigte sich deutlich, dass es für diesen Wandel jemanden braucht, der auf dieses Wort hört und über die eigene Person hinaus Verantwortung dafür übernahm. Denn erst dieses Wort macht fähig, den Auftrag zu leben, den Gott erteilt. 
Ich nehme ein zweites Beispiel aus dem zweiten Teil des Jesajabuches, dem Teil, den die Gelehrten einem Propheten zuschreiben, der während des Exils des Volkes Israel in Babylon lebte. Welche Hoffnung gab es für ein Volk, das das Land, den Tempel, Jerusalem verloren hat? Wo war die Kraft seines Gottes geblieben inmitten der großen babylonischen Götter, die siegreich erschienen und durch die Straßen der Stadt getragen wurden, während dieses Volk nicht einmal seinen Gott darstellen konnte? In dieser Lage erinnert sich der Prophet zunächst an die Barmherzigkeit Gottes und die Geschichte, in der sein Volk bereits Befreiung erfahren hatte. Von da aus konnte er sich seine Zukunft vorstellen und ankündigen. Drei Dinge sind also notwendig: Hören, Gedenken, Sehen. 
Das sind genau die Worte, die heute oft fehlen, damit das Wort Gottes wieder zu einem Kompass für unsere Zeit werden kann, für eine Zeit der Freiheit unserer Entscheidungen als Antwort auf die Worte des Rufes Gottes. 
 
- Zuhören: Das ist die Grundvoraussetzung. Der Prophet selbst hört auf das, was Gott sagt. Wir erleben eine Welt, in der man nicht zuhört, weil jeder von sich selbst und für sich selbst spricht, sich selbst behauptet, die eigenen Vorstellungen verteidigt, ohne zuzuhören. Das Zuhören ist selten geworden in einer Gesellschaft von Frauen und Männern, die sich daran gewöhnt haben, in sozialen Medien vernetzt zu sein, ohne durch persönliche Beziehungen bereichert zu werden. Zuhören erfordert in der Tat Anwesenheit, den Blick, Aufmerksamkeit und Geduld, Verzicht auf etwas von sich selbst und Zeit. Das Zuhören ermöglicht es auch, das Seufzen und Jammern, sowie den Leid aufzunehmen, die durch den Lärm des Lebens übertönt und ferngehalten werden, damit sie die anderen nicht erreichen. Ich denke an die schwache Stimme eines alten Mannes, an den Hilferuf der Migranten in den Wüsten und auf den Meeren, an den Hilferuf der Obdachlosen, aber auch an die Not der jungen Menschen, die gezwungen sind zu schweigen und ihre Fragen, Zweifel, Ängste oder Sorgen für sich zu behalten. Wer wird ihnen zuhören?  Gott hat den Schrei seines Volkes in Ägypten gehört und es befreit. Er war der Einzige, denn Mose hatte dieses Volk bereits vergessen, obwohl er sich der Ungerechtigkeiten bewusst war. Jesus hörte den Schrei des blinden Bartimäus, obwohl viele ihm zuriefen, er solle schweigen. Dann wurde er von Jesus geheilt. 
 
- Gedenken: Das Gedenken ist nicht einfach nur Erinnerung, sondern es macht die Vergangenheit gegenwärtig, so dass es für die Gegenwart an Bedeutung gewinnt, so dass es zur Hilfe wird, um die Gegenwart zu verstehen. Das Gedenken befreit die Geschichte von der Zufälligkeit, von der Abfolge unverbundener Ereignisse, und es weist auf einen Sinn hin, den es zu verstehen und zu verwirklichen gilt. Das Gedenken macht gewissermaßen die Gegenwart möglich und lenkt den Blick auf die Zukunft. Daher kann das „Nicht-Gedenken“ eine schwere Hypothek für die Gestaltung der Zukunft sein. Man denke nur an das geringe Gedenken an das Böse des Krieges, an seine Zerstörungskraft und seine tödlichen Auswirkungen. Wie kann es jemandem heute überhaupt noch in den Sinn kommen, mit der nuklearen Bedrohung zu agieren, wo wir doch genau wissen, was der Einsatz der Atombombe in der Vergangenheit bewirkt hat?  Oder dass wir weiterhin den Krieg als Weg zum Frieden befürworten? „Gedenkt!“ – sagt der Gott der Bibel als Warnung.
 
- Visionen: Hören und Gedenken wecken Visionen und Vorstellungen. So war es auch bei den Propheten, die nicht die Zukunft vorhersagten, sondern die aus ihrer Zeit heraus, durch das Gedenken an die Vergangenheit, die Zukunft erahnten und erahnen ließen. Das erfordert Vertrauen, den biblischen Glauben. Man muss eigene Gewissheiten und den gewohnten Pessimismus ein wenig aufgeben und sich von der Leidenschaft und dem Mitgefühl Gottes für die Menschheit und für das Gute, den Frieden, die Geschwisterlichkeit bereichern lassen. 
 
Diese Haltungen ermöglichen den Aufbau einer geschwisterlichen und friedlichen Welt, wie sie Papst Franziskus in Fratelli tutti angedeutet hat, in der die Vorherrschaft des „Ich“ durch ein „Wir“ von Frauen und Männern ersetzt werden kann, die in der Lage sind, sich an einem gemeinsamen Engagement zu beteiligen, Teil einer universalen Menschheitsfamilie zu sein, in der alle, angefangen bei den Armen, einen Ort der Hoffnung und des Lebens finden können.