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Marco Impagliazzo

Historiker, Präsident der Gemeinschaft Sant’Egidio
 biografie
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Meine Damen und Herren,
 
Der lange Weg von Vertreterinnen und Vertretern der Religionen auf der Suche nach Frieden, der 1986 in Assisi begonnen hat, ist in diesem Jahr in Berlin angekommen. Diese Hauptstadt eines großen europäischen Landes hat einen weiten Horizont auf die Welt. Nach langen Jahren des Leids und der Zerrissenheit ist sie zu einem Zeichen der Hoffnung geworden. Eine Hoffnung, die im Leben der Menschen immer wieder entstehen kann.
 
Keine Mauer bleibt ewig. Diese Tage stärken unseren Mut, den Frieden in unseren Gesellschaften und in der Welt aufzubauen.
 
Wir danken Ihnen für die Bereitschaft, an diesem Podium mit vielen Teilnehmern unseres Friedenstreffens teilzunehmen, die sich hier in Berlin folgende Frage stellen: Wie kann man den Frieden aufbauen an den vielen Orten der Welt, an denen der Friede durch den Krieg überrollt und gefährdet ist. Dies ist eine wichtige Frage. Sie entsteht, indem wir auf den Schrei von Millionen Menschen hören, die in dieser Welt den Frieden sehnlichst erhoffen. Kein Mensch ist eine Insel, sagte ein großer Gelehrter im vergangenen Jahrhundert. Kein Volk und kein Land ist eine Insel. Wir sind alle durch ein gemeinsames Schicksal verbunden. Deshalb muss die Verantwortung unbedingt wachsen, diese Welt besser zu machen. Dies kann nur gelingen, wenn wir nicht wegschauen, sondern die Menschen sehen, die am meisten unter den Folgen der Ungleichheit, der Armut und des Krieges leiden.
 
Unser Weg im Geist von Assisi ist ein Pilgerweg, der uns von Stadt zu Stadt geführt hat. Im Laufe der 37 Jahre hat er ein Volk heranwachsen lassen, das nicht nur aus Verantwortlichen der Religionen besteht, sondern aus Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Völkern und Kulturen mit ihren Leiden, Hoffnungen und Freuden.
 
Auf diesem Weg haben wir an den Kriegen und Schmerzen der Welt Anteil genomment: von Afrika bis nach Lateinamerika, von Asien bis in den Nahen Osten. Das Miteinander mit allen Verschiedenheiten hat in uns eine  große Ambition geweckt: Wir wollen Geschichte schreiben, auch dort, wo es so scheint, als ob sich nichts ändern kann. So sind viele Friedensabkommen entstanden, die den Lauf der Geschichte ganzer Länder verändert haben. Ich denke an das Land Mosambik, für das die Gemeinschaft Sant’Egidio erfolgreich den Frieden verhandelt hat. Ich denke an Liberia, El Salvador, an die Elfenbeinküste, an die Länder des Sahel, an Mindanao und an andere Länder.
 
Unser Traum besteht darin, dass in einer Welt der vielen schreienden ICHs täglich das WIR geschaffen werden kann. Dieses WIR ist der Sinn des Zusammenlebens. Der polnische Philosoph Zygmund Baumann hat auf unserem Friedenstreffen 2016 in Assisi betont, dass “unsere Zukunft von der Fähigkeit abhängt, immer mehr das Pronomen wir zu verbreiten und dem Pronomen sie weniger Raum zu geben. Dies kann einzig dadurch geschehen, wenn wir es vermögen, eine empathischere, geschwisterlichere, menschlichere und dialogbereitere Gesellschaft zu errichten”. Und er sagte weiter: “Das Beharren auf der dualistischen Entgegenstellung fördert Feindseligkeit und Angst, anstatt die Gastfreundschaft und das Bewusstsein für das Gemeinwohl zu stärken”.
 
Gastfreundschaft und das Bewusstsein für das Gemeinwohl waren die Grundlage für den Aufbau Europas nach den beiden Weltkriegen. Hierfür sehen wir eine entscheidende Notwendigkeit in Zeiten eines erneuten großen Krieges in Europa. Wir setzen uns für eine Zukunft ein, in der der Friede zurückkehrt und wir in Europa wieder eine Freundschaft und gemeinsame Sensibilität aufbauen. Die Folgen eines langen Krieges für den armen Süden der Welt bereiten uns große Sorge. Deshalb verlangen wir nach einem gerechten Frieden, durch den die Architektur einer globalen Sicherheit wieder hergestellt werden kann, die heute durch die russische Aggression in die Krise geraten ist.
 
Wir freuen uns sehr, dass Sie heute hier sind, und dass wir Ihre Sicht hören dürfen. Wir leben in einer komplexen Welt, in der vieles in die Brüche zu gehen scheint. Dennoch wollen wir weiter an ein gemeinsames Schicksal glauben. Martin Buber sagte: “Die Welt ist nicht immer zu verstehen, aber zu umarmen”. 
 
Das ist wahr: Im Menschen und in der Geschichte ist nicht immer alles klar und eindeutig. Man versteht nicht alles. Doch am wichtigsten ist, die Welt zu umarmen, auch wenn man nicht alles versteht. Was zählt, ist, dass wir alles im Herzen tragen, wie ein italienischer Priester, ein Freund der Ärmsten, sagte: “I care”. Deshalb wollen wir daran glauben, dass aus dieser Umarmung eine neue Geschichte entstehen kann.