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Tarek Mitri

Rektor der St. Georg-Universität Beirut, Libanon
 biografie
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens erfordert in erster Linie die gegenseitige Bereitschaft zum Zuhören, die Offenheit, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und die Offenheit, den anderen so zu verstehen, wie er ist. 
 
Die Art und Weise, wie wir uns gegenseitig wahrnehmen, ist oft unscharf. Die Modernisierung hat sich stark säkularisierend ausgewirkt, an manchen Orten mehr als an anderen, aber sie hat auch starke Bewegungen gegen die Säkularisierung hervorgerufen. In einigen extremen Fällen kämpfen die Menschen im Namen von Religionen, an die sie aber nicht mehr glauben. Es gibt Konflikte zwischen Gruppierungen, die eine religiöse Vergangenheit hatten, deren religiöse Inhalte aber heute keine Rolle spielen. Religionen, an die die Menschen wenig glauben, werden weiterhin als prägend für Gemeinschaften angesehen, während diese vor allem an ihr Gemeinwesen glauben. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, zwischen politischen Bewegungen, die wirklich religiös inspiriert sind, und solchen zu unterscheiden, die die Religion als bequeme Legitimation für politische Agenden und für nicht-religiöse Interessen benutzen.
 
In der muslimischen Welt stellen ideologische Denkmuster die westliche Welt als egoistisch, materialistisch und herrschsüchtig dar. Im Westen wird der Islam in entsprechenden Denkmustern als irrational, fanatisch und expansionistisch wahrgenommen. Im Zeitalter der globalen Kommunikation und Migration schüren diese Denkmuster den Antagonismus. 
 
Solche Wahrnehmungen sind oft imaginäre Konstruktionen, die durch paradoxe Entwicklungen der Globalisierung noch verschärft werden. Die Entwicklung des Konsumverhaltens und der globalen Fernsehunterhaltung hat zu einer noch nie dagewesenen kulturellen Standardisierung geführt. Doch je ähnlicher sich Individuen und Völker werden, desto mehr haben sie das Bedürfnis, ihre Unterschiede zu betonen. In vielen Gesellschaften laufen die Menschen Gefahr, in der „schlechtesten von zwei Welten“ zu leben: in einer kulturell homogenen Welt und in einer Welt, in der die Suche nach Identität und Gemeinschaft in Feindseligkeit gegenüber dem anderen mündet.   
 
Die Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen sind zwar stark von der lokalen und regionalen Geschichte geprägt, werden aber zunehmend von globalen Entwicklungen beeinflusst. Wenn Gemeinschaften ausschließlich oder sogar in übertriebenem Maße mit ihrer Religion identifiziert werden, neigen sie dazu, die Situation zu verschärfen. Religionen verweisen auf eine universale Ausrichtung, die in einigen Gesellschaften als Ursache für Spannungen oder Konflikte angesehen werden können. Aber sehr oft sind sie nur ein Aspekt, der Streitigkeiten verschärft, deren Hauptursachen außerhalb der Religion liegen. 
 
Es gibt Fälle, in denen ein Konflikt an einem Ort – mit seinen lokalen Ursachen und seinem Charakter – als Teil eines Konflikts an einem anderen Ort wahrgenommen und ausgenutzt wird. So werden Feindseligkeiten in einem Teil der Welt zu angespannten Situationen in anderen Regionen. Eine Gewalttat an einem Ort wird genutzt, um Stereotypen über den „Feind“ an einem anderen Ort zu bestätigen oder sogar Racheakte an einem anderen Ort der Welt zu provozieren. Darüber hinaus sind manche Völker teilweise nicht in der Lage oder nicht willens, diejenigen zu bekämpfen, die für ihre Wut Zielgruppen suchen und diese auch leicht finden. Manchmal machen sich Nachbarn gegenseitig für das Unrecht verantwortlich, das ihren Glaubensgeschwistern an einem anderen Ort zugefügt wurde. Wenn sie nicht bereit sind, sich öffentlich von denen zu distanzieren, mit denen sie den Glauben teilen, werden sie beschuldigt, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. 
 
Für ein friedliches Zusammenleben muss diesen Prozessen entgegengewirkt werden. Mit anderen Worten: Es kann notwendig sein, „interreligiöse und interkulturelle Spannungen zu deglobalisieren“. Die Aufmerksamkeit für die spezifischen lokalen Ursachen von Spannungen und Konflikten hilft, Lösungen zu finden. Dies ist nur möglich, wenn die Oberhäupter aller Gemeinschaften sich weigern, in die Konflikte der anderen hineingezogen zu werden, wenn eine unkritische Antwort der Solidarität zwischen den Anhängern eines Glaubens gefordert wird. Der Glaube und aufrichtige religiöse Überzeugungen können dann die Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit menschlicher Schwäche und fehlerhaften sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen bilden.
 
Die Kultur des Zusammenlebens ist eine Kultur des Dialogs im Leben. Die Grundsätze der Staatsbürgerschaft, der Gleichheit, des Rechts und der Menschenrechte stehen im Mittelpunkt des „Dialogs des Lebens“. Für gläubige Menschen ist es von entscheidender Bedeutung, die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu bekräftigen, die Rechte des Einzelnen mit denen der Gemeinschaften in Einklang zu bringen und allen Opfern zu helfen, unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Identität. Die Verteidigung der Menschenrechte darf daher nicht von einer konfessionellen Solidarität abhängig gemacht werden, so legitim sie auch sein mag. 
 
Ebenso muss ein klares Verständnis der Beziehung zwischen Gewalt und Religion wieder in den Vordergrund gerückt werden. Manchmal scheint es eine ungeduldige Tendenz zu geben, eine Erklärung für kriminelle Übergriffe darin zu suchen, das Gewalt in der Schrift oder der Religion gerechtfertigt werden. Daher werden dann die nicht-religiösen Faktoren, die die symbolische und tatsächliche Gewalt bestimmen, nicht angemessen – geschweige denn erschöpfend – untersucht, bevor man sich dem religiösen Bereich zuwendet. Die „Anatomie“ der Gewalt wird gegenüber ihrer „Genealogie“ privilegiert. Wenn einige die traditionelle religiöse Erziehung für die Verbreitung einer Kultur des Hasses verantwortlich machen, übersehen sie, dass es nicht die traditionellen religiösen Werte sind, die die Menschen zur Gewalt führen, sondern deren Verlust, der kaum ersetzt wird. Das führt zu Frustration, Jammern und Abscheu. Die Gewalt lässt sich nicht mit dem Hass der Vorfahren erklären, denn der Hass der Vorfahren wird durch die moderne Gewalt neu erfunden und sogar geschaffen. Es bleibt jedoch wahr, dass Spannungen und Konflikte in Bezug auf Identität und Werte schwieriger zu verhindern und zu lösen sind, weil ihr Gegenstand nicht quantifizierbar ist und nicht auf deren Inhalt, sondern auf ihre Umsetzung bezogen sind.
 
Aus diesem Grund kann das Zusammenleben – oder der Dialog des Lebens – nicht der Logik der Verhandlung untergeordnet werden. Denn das setzt die Bereitschaft voraus, nicht das eigene Werturteil in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Bereitschaft erfordert intellektuelle Demut. Demut ist kein Konzept, das die meisten Menschen gern akzeptieren. Man kann feststellen, dass sie nur eine Tugend von Männern und Frauen mit tiefem Glauben ist. Das bestimmende Merkmal unserer Zeit scheint Arroganz zu sein, nicht nur bei denen, die Macht ausüben oder Reichtum anhäufen.  
 
Intellektuelle Demut ist die notwendige Voraussetzung für den Dialog. Dies ist keine Aufforderung zu Relativismus, sondern eine Erinnerung daran, dass viele Fragen mit Zweifeln behaftet sind. Ein Gleichgewicht zwischen intellektueller Demut und moralischer Überzeugung zu finden, ist ein schwieriger Kampf. Respekt vor den Wahrheitsansprüchen anderer und die Bereitschaft, unser Urteil über den Glauben derer, mit denen wir nicht übereinstimmen, zurückzustellen, können wichtige Merkmale intellektueller Demut sein. Aber Demut steht nicht im Widerspruch zu moralischer Gewissheit. Es gibt viele Möglichkeiten, moralische Gewissheit auf universaler Ebene zu legitimieren. Einige haben die Konvergenz religiöser Gebote hervorgehoben – das erste davon ist die „goldene Regel“, der Grundsatz, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Andere haben ihre moralische Gewissheit auf das Naturrecht oder die soziale Funktionalität gestützt.
 
Abschließend sei daran erinnert, dass weder historische Zufälligkeiten noch Unterschiede in Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, kulturellem Erbe und religiösen Überzeugungen gegen unsere gemeinsame Menschlichkeit sprechen. Doch während wir die gemeinsame Menschlichkeit bekräftigen, müssen wir uns vor einem anonymen oder abstrakten Universalismus hüten. Es ist notwendig, den Raum zwischen einem anonymen Universalismus, der für hegemoniale Kontrolle anfällig ist, und ethnozentrischem Fanatismus zu erweitern. Damit bin ich wieder am Anfang meines Diskurses angelangt. Gleiche Bedingungen und gleiche Teilhabe sind eine notwendige Bedingung für den Dialog des Lebens, weshalb sie kein Akt der Herablassung oder der Nächstenliebe des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren sind. Tatsächlich können die Schwächeren sehr wohl die – reale oder potenzielle – Macht besitzen, den Mächtigen Legitimität zu verleihen. Und wer sich für unbesiegbar hält, darf nicht vergessen, dass er verwundbar ist.