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Gerhard Ulrich

Lutherischer Bischof, Leitender Bischof der VELKD, Deutschland
 biografie

 „Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung!“ – 

 
So ermahnt Paulus die Gemeinde im Kolosserbrief.
 
Vor einiger Zeit war von einer wissenschaftlichen Studie in den USA über die Wirksamkeit des Betens zu lesen. Ergebnis: Patienten, für die vor, während und nach einer Bypass-Operation gebetet wurde, hatten genauso viele Komplikationen wie diejenigen, für die nicht gebetet wurde. Mehr noch: Patienten, die wussten, dass Gott für sie angerufen wurde, ging es am Ende sogar am schlechtesten von allen. Nach Einschätzung der Ärzte könnten die Gebete die Herzpatienten zusätzlich gestresst haben. Der Erwartungsdruck steigt, vor allem aber schlägt sich eine negative Autosuggestion nieder: steht es schon so schlimm, dass nur noch Beten hilft? Das hieße ja dann: Gebet verändert die Welt zum Schlechteren! Also doch lieber nicht so beharrlich beten – wer weiß, wem wir schaden, wenn wir uns derart nützlich zu machen versuchen?
 
Der Hamburger Theologe Fulbert Steffensky sagt über das Gebet, es sei „die köstlichste Nutzlosigkeit, die unser Glaube kennt“.  – Das Gebet: ein schwieriges Thema, ein sehr intimes dazu. Dass das Gebet sich nicht durch seinen Nutzen rechtfertigt, haben sicher alle schon erfahren. Ich möchte lieber darüber reden, was köstlich an ihm ist. Die köstlichste Nutzlosigkeit: ein besonderes Geschenk, dass wir uns öffnen und fallen lassen dürfen; dass wir Gehör finden; dass wir uns herausstellen dürfen aus der Hast und frei machen dürfen von Druck und Anspruch. Es ist köstlich: erfrischend zu wissen, dass wir mit dem, was uns beschwert oder beflügelt, nicht allein sind, sondern zusammengeschlossen und zusammengebunden untereinander und mit Gott.
 
Eine Köstlichkeit des Glaubens: es wurzelt in der Gewissheit, dass Gott der Vater aller Dinge ist, dass sein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit; dass sein Wille geschehe. 
 
Das Gebet ist die Haltung des Glaubens – in Demut und in unverschämtem Einklagen der Verheißungen Gottes gleichermaßen. Eine Haltung des Glaubens, der Gott alles zutraut, mit ihm rechnet als einer Realität des Lebens und der Welt. Das Gebet ist eine Köstlichkeit des Glaubens, weil es sich jeder Berechenbarkeit entzieht; weil es nicht funktioniert nach Input-Output-Regeln; weil es quer steht zum Leistungs- und Preisdenken. Wer betet, faltet die Hände, tut nichts, wird passiv: kommt zur Ruhe, sucht die Mitte, um die sein Leben sich drehen kann.
 
Wer betet, verschließt sich nicht in sich selbst, sondern kommt aus sich heraus, öffnet sich: einer Macht, die mehr ist, als alle menschliche Macht. Das Gebet ist kein Mittel, etwas zu erlangen. Es ist die Selbstauslieferung des Menschen an das Geheimnis des Lebens. Im Gebet weiß ich, dass ich nicht mein Selbsterbauer oder Selbstrechtfertiger bin.
 
Wenn ich bete, weitet sich mein Blick über das hinaus, was mich jetzt ganz bewegt und erfasst. Wenn ich ausspreche – leise oder laut, was auf mir lastet: dann gewinne ich eine frei machende Distanz zu mir und den lastenden Dingen. Dann spüre ich, wie ich angeschlossen bin an eine Quelle guter Kraft.
 
Im Gebet muss ich mich nicht verstecken oder schützen. Ich darf ganz ich selbst sein – mit allem, was zu mir gehört: mit den Stärken und den Schwächen; dem Gelingen und Misslingen; mit der Sehnsucht und mit der Enttäuschung. Der Betende weiß: ich bin schon angesehen bei Gott. Das gehört zur köstlichen Freiheit der Kinder Gottes: dass sie auf die Macht Gottes mehr hören als auf die Menschen. Und dass sie ins Gebet nehmen die Welt mit ihren Mächten, Ungerechtigkeiten; dass sie sich nicht zufriedengeben mit verschlossenen Ohren, mit verweigerter Liebe und verweigertem Recht und mit Elend und Zerstörung; dass sie sich zusammenschließen im Gebet, Anteil nehmen aneinander, hinsehen lernen auf diese Welt, füreinander eintreten in Fürbitte und sich im Gebet stärken lassen zum Tun des Gerechten. 
 
Natürlich kennen wir die andere Seite, die ganz und gar nicht köstliche Erfahrung, dass Gott nicht hört, wie wir uns das vorstellen; die Unsicherheit, ob da einer ist, der hilft und stärkt; die Ahnung der Verlassenheit und die Angst. Die Bibel ist voll von Gebeten, die nicht einfach nur köstlich Dank sagen. Da hadern Menschen mit ihrem Gott: Hiob kämpft, stößt Gott geradezu ab; Jesus klagt am Kreuz: warum hast Du mich verlassen? Und wie oft bitten Menschen Gott händeringend um Hilfe und Rettung aus Krankheit und Leid – und wie oft tun sie das scheinbar vergebens! Diese Ratlosigkeit und Verlorenheit gehören zur Realität, die wir vor Gott bringen. Er kann unsere Zweifel aushalten. Sie sind bei ihm gut aufgehoben, wie auch die Sehnsucht nach Gnade, nach Rettung, nach Bewahrung. 
 
„Seid beharrlich im Gebet!“ – Gott antwortet schon, indem wir beten, nach ihm fragen, ihn suchen. Er spricht schon vor unserem Beten. Gott lässt sich nicht festlegen. Aber er wird hören, was wir zu sagen haben und er wird hören, was wir schweigend vor ihn bringen. Und er wird uns öffnen die Tür zu seinem Wort, das uns stärkt, das aufrichtet, was geknickt ist und das neu entzündet, was zu erlöschen droht: eine Köstlichkeit des Glaubens – gar nicht nutzlos. 
 
 
 
Das klang nun vielleicht alles etwas sehr zurückhaltend und scheint nicht gerade das Thema unserer Panels zu bestätigen: Das Gebet verändert die Welt. Doch ich glaube, gerade in dieser ohnmächtigen Doppelbewegung liegt dann doch die weltverändernde Kraft des Gebets. Gerade wenn das Gebet eine köstliche Nutzlosigkeit ist, gerade wenn wir im Gebet unsere Ohnmacht erfahren, gerade wenn wir im Gebet völlig ungeschützt so sein dürfen, wie wir sind, gerade wenn wir uns im Gebet fallen lassen dürfen und dadurch erfrischt werden, gerade wenn wir im Gebet nicht uns, sondern Gott alles zutrauen, gerade wenn ich mich im Gebet öffne und für andere eintrete, gerade dann setzt das Gebet ungeahnte Kräfte frei. „Dein Wille geschehe“, beten wir im Vaterunser, „Dein Reich komme“, „Dein ist die Kraft und die Herrlichkeit“: das Gebet, gerade dieses Gebet, verschiebt die Machtbereiche – weg von der Selbstherrlichkeit hin zu dem, der alles Leben schafft und erhält; gegen die Gottvergessenheit der Welt. 
 
„You can’t always get what you want“, heißt es in einem der großen Songs der „Rolling Stones aus dem Jahr 1969. Und das steht scheinbar quer zur Biblischen Überlieferung: „Klopf an, und es wird dir aufgetan“, sagt Jesus und: „bittet, so wird euch gegeben… Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet…“. Ist das nicht geradezu das Gegenprogramm? Wir stecken voller Sehnsüchte, voller Unzufriedenheit: Es muss doch mehr als alles geben?! Wir haben unsere Träume und unsere Visionen von einem Leben, das gelingt und erfüllt ist. Wir leben von Bildern der Liebe, des Friedens, der Gerechtigkeit. Geliebt wollen wir sein. Verstanden wollen wir werden. Aufgehoben, geborgen. Der Song aber begnügt sich nicht mit dieser frustrierenden Feststellung. Er ist berühmt gerade wegen der unerwarteten Wendung zur positiven Note. Die Realität der Welt hat noch eine andere Variante bereit, nicht nur pessimistische Verzweiflung, sondern optimistische Aussicht. Du bist der Realität nicht hilflos ausgesetzt, auch nicht den Mächten dieser Welt: wenn du versuchst, deinen Sehnsüchten nachzugehen und sie zu verstehen, wenn du es wirklich versuchst – dann kann es sein, dass du irgendwann finden wirst, was du wirklich brauchst! 
 
 
 
Und damit sind wir wieder bei dem, was uns die Bibel verheißt: Klopf an, und es wird die aufgetan, bitte und es wird dir gegeben: Gott allein weiß, was Du brauchst für dein Leben, was nötig ist. If you try: wenn du dich nicht zurückziehst, kannst du entdecken, dass da mehr ist, als dein momentaner Wille, dass deiner Sehnsucht ein Ziel gegeben ist, ungeahnt, lange unerkannt. 
 
But if you try: Für Christenmenschen ist die Bewegung das Gebet. Hineingehen in mein Wollen und Sehnen und Leiden und Streiten. Vor Gott bringen. Im Gebet kannst Du ruhen, Dich fallen lassen in die Hände dessen, der alles Leben schafft. Gott gibt uns, was wir brauchen. Wer betet, sich an Gott wendet, wer bei ihm anklopft, findet heraus, was nötig ist in Liebe, Leid, Hoffnung und Enttäuschung. 
 
Das ist doch die lebendige, verändernde, bewegende Hoffnung, dass diese Welt eben nicht aufgeht in dem, was wir sehen, begreifen, tun oder lassen. Und die Hoffnung macht nicht ruhig, sondern unruhig, bringt auf die Beine: Beten und Tun des Gerechten gehören zusammen, sagt Dietrich Bonhoeffer. 
 
Das Gebet wird Kraft entfalten, die die Welt zu verändern vermag. Glaubenskraft für mehr Recht und Gerechtigkeit, Glaubenskraft für mehr Miteinander zwischen den Kirchen und Religionen, Glaubenskraft für mehr Anteilnahme am Anderen, Glaubenskraft für mehr Nächstenliebe in dieser Welt. Darum: „Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung!“