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Annette Schavan

Ancien ministre fédéral de L'éducation et de la Recherche, Allemagne
 biographie
Am 24. Dezember 1968 lasen drei Astronauten der amerikanischen Raumfahrtmission Apollo 8 die Weihnachtsbotschaft der Bibel aus dem All. Die Raumfahrt ist im 20. Jahrhundert ein Bild für die ungeahnten Kräfte und die Möglichkeiten des Menschen, seinen Lebensraum immer mehr zu erweitern - gleichsam nach den Sternen zu greifen. Es wächst das Bewusstsein, dass viel mehr möglich ist, als bislang gedacht. Das hat weltweit zu einer Aufbruchstimmung geführt, die mit Licht und Schatten verbunden ist. Es ist ein Jahr, von dem die einen bis heute schwärmen und andere sich an den Albtraum ihres Lebens erinnern.
Im Blick auf die Ereignisse in Deutschland schreibt Götz Aly (*1947), ein Publizist, der 1968 in Berlin Politische Wissenschaften und Geschichte studierte und selbst zu den Achtundsechziger gehörte: „Selbstverständlich machte das Revoltieren Spaß, war ungemein romantisch. An Gründen fehlte es damals nicht. Doch die Selbstermächtigung der Achtundsechziger zur gesellschaftlichen Avantgarde, ihr Fortschrittsglaube, ihre individuelle Veränderungswut, ihre Lust an der Tabula rasa und - damit bald verbunden - an der Gewalt erweisen sich bei näherem Hinsehen als sehr deutsche Spätausläufer des Totalitarismus.“ 1)
Von welcher Generation in Deutschland sprechen wir? Was waren für sie lebensprägende Erfahrungen? Was wollten sie erreichen - kulturell, politisch und auch kirchlich? Für meine Generation (Jahrgang 1955) waren die 68er so etwas wie die älteren Geschwister. Sie hatten noch die Ruinen in den Städten gesehen und auch die inneren Verwerfungen in vielen Familien erlebt: Väter, die nicht aus dem Krieg zurück gekommen waren oder erst Jahre nach Kriegsende aus der Kriegsgefangenschaft; Mütter, die vergeblich auf ihre Männer gewartet und kein Lebenszeichen von ihren Männern hatten. Fremdheit zwischen Eltern und Kindern in den schwierigen Jahren der unmittelbaren Nachkriegszeit und viel Sprachlosigkeit. „68 hieß nicht, das Ganze zu begreifen oder die Welt zu verändern, sondern seinem Sehnen nach Weite, Überschreitung und Metamorphose Ausdruck zu verleihen. 68 ist nicht Weltveränderung, sondern Selbstveränderung.“ 2) 
 
1968 KULTURELL: BEFREIUNG
Das sahen viele der damaligen Akteure gewiß anders. Sie waren davon überzeugt, sich aus der Enge zu befreien und alles bisherige Regelwerk ausser Kraft zu setzen, werde auch die Welt verändern. Die Bewegung war vor allem eine Studentenbewegung. An den Universitäten herrschte eine explosive Stimmung. Obgleich es dort neben den Alt-Ordinarien eine Reihe junger, aufgeschlossener Professoren gab, hatten auch sie keine Chance zum Dialog. Sie wurden gleichsam mental hinweggefegt. Manche flohen aus den Universitäten, andere - wie der junge Professor Joseph Ratzinger - empfanden die Situation als Alptraum, den sie bis heute nicht vergessen haben. Die Art der damaligen Auseinandersetzung sollte kulturell befreiend sein, wird mit dem Abstand von 50 Jahren heute von damaligen Akteuren kritisch gesehen. In die Auseinandersetzung mit den Vätern mischte sich viel eigener Dogmatismus, Dialogunfähigkeit und eine hohe Gewaltbereitschaft.

1968 POLITISCH: REVOLTE
Politisch war der Auslöser für eine um sich greifende politische Revolte der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin. Er wurde am Rande einer Demonstration gegen den Schah von Persien, der sich zu einem Staatsbesuch in Deutschland aufhielt, von einem Polizisten erschossen, der sich später als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) herausstellte. Ein Auftrag des MfS zum Mord an Ohnesorg könnte nicht nachgewiesen werden. Der Polizist wurde vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Der Tod von Ohnesorg führten zu Panik und Wut. Er war der zentrale Auslöser für die Ausweitung und Radikalisierung der Revolte. Nun richtete sich die Bewegung gegen den Staat und seine Institutionen. Der „lange Marsch auch die Institutionen“ war unaufhaltsam. Eine „Ausserparlamentarische Opposition“ (APO) nahm für sich in Anspruch, die Verhältnisse grundlegend zu verändern. „Die Schüsse vor der Deutschen Oper wurden als Höhepunkt einer Politik angesehen, die Minderheiten und Nonkonformisten auszuschalten versuchte. Lokale Antinotstandskomitees gründeten sich im ganzen Land.“ 3) Was in Deutschland geschah, das war Teil einer Internationalen Bewegung mit Licht und Schatten: Heftige Auseinandersetzungen, skurrile Aktionen und Projekte, Gewalttätigkeit und Zerstörungswut auf der einen Seite; eine Entwicklung zu mehr Demokratie und Emanzipation, vor allem auch für die Frauen, gehören anderseits dazu. Wir Jüngeren haben davon zweifelsohne profitiert. Manche der damaligen Kämpfer sind mitten in den Institutionen gelandet und haben darin durchaus jene Sicherheit erfahren, die sie zu anderen Zeiten bekämpft haben. Kritische Rückblicke, wie der eingangs zitierte Blick von Götz Aly, können möglicherweise Hinweise für die Analyse heutiger Bewegungen geben.
 
1968 KIRCHLICH: ERNEUERUNG
In der Katholischen Kirche in Deutschland war 3 Jahre nach dem 2. Vatikanischen Konzil eine Aufbruchstimmung: in den Gemeinden und Verbänden, in der Theologie und in den Diözesen. Wir Jugendlichen durften experimentieren und Jugendgottesdienste vorbereiten. Neues Liedgut entstand, das zwischenzeitlich in das offizielle Gesangbuch Eingang gefunden hat. Es wurden in den Gemeinden Familienkreise gebildet, die sich mit der neuen Zeit in der Kirche nach dem Konzil beschäftigten. Viele engagierten sich und waren optimistisch, dass die Impulse des Konzils dauerhaft neues Leben in die Gemeinden bringen werde. An den katholisch-theologischen Fakultäten lehrte in diesen Jahren eine Generation der Theologen (Theologinnen kamen erst später), die auf Erneuerung setzte. Sie beschäftigten sich mit den „Zeichen der Zeit“ und schufen neue theologische Zugänge zur Tradition. Karl Rahner formulierte eine „anthropologische Wende“ in der Theologie. Die Ausdifferenzierung praktisch-theologischer Disziplinen schritt voran. Die Impulse des Konzils sollten eine neue Phase in der Geschichte der Kirche und der Christenheit einläuten: ein neues Verhältnis zum Judentum, eine neue Beziehung zwischen Kirche und Welt, ein Schub für die Ökumene. Manches gelang, das wir nicht unterschätzen dürfen. Aber wir sind auf halber Strecke stehengeblieben. Darauf macht uns heute Papst Franziskus aufmerksam, wenn er kritisiert, wir bauten dem Konzil ein Denkmal, wollten uns aber nicht davon stören lassen. „Mehr noch: Es gibt Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück.“ 4) Wir erleben mit seinem Pontifikat eine Zeit der eindringlichen Erinnerung an das Konzil und seine Aufforderung zur Erneuerung. Wir erleben in der Gemeinschaft Sant’Egidio seit 50 Jahren die Kraft der Erneuerung und einer politischen und kulturellen Revolution der Liebe und des Einsatzes für die Armen und Ausgegrenzten und für den Frieden.
 
 
1) Götz Aly, Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt 2. Auflage 2008, 8.
2) Heinz Bude, Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968, München 2018, 29.
3) Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa,USA, München 5. Auflage 2017, 67.
4) Papst Franziskus, Meditation bei der Frühmesse in Santa Marta, 16. April 2013