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Martin Salm

Präsident der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft”, Deutschland
 biografie

Die Roma sind mit geschätzt zwölf Millionen die größte ethnische Minderheit in Europa. Und sie sind die am stärksten diskriminierte Minderheit Europas. Sie sind Europäer, vielleicht mehr als andere. Vor allem aber sind Roma Menschen – nichts anderes heißt Rom: Mensch – und es gebührt ihnen Respekt wie jedem anderen Menschen auch. Diese Selbstverständlichkeit gilt es mit Leben zu füllen.
Wenn wir über Roma in unseren Gesellschaften reden, passiert es oft, dass wir, die Gadje (also die Nichtroma), genau zu wissen meinen, was die Roma tun müssten. Oft führen wir solche Gespräche auch ganz ohne deren Beteiligung. Was aber wir bei uns ändern müssten, darüber schweigen wir. Weil wir davon ausgehen, dass sich „die Anderen“ – und das gilt nicht nur für Roma – uns anpassen müssten, während wir einfach in der Haltung verharren, die wir schon immer eingenommen haben. Dass es aber gerade oft unsere Haltung ist, die ein Zusammenleben in Würde erschwert oder verhindert, ist uns noch nicht bewusst genug.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Aus der Mitte der Sinti und Roma in der Bundesrepublik heraus wurde eine Studie zur aktuellen Bildungssituation dieser in Deutschland als nationale Minderheit anerkannten Gruppe angefertigt. Deutsche Sinti und Roma, die seit mindestens drei Generationen in Deutschland leben, wurden nach ihren Bildungsverläufen befragt. Die Ergebnisse sind erschreckend:
•    Über 40 % der Befragten haben keinerlei Schulabschluss, in der Mehrheitsbevölkerung haben knapp 8 % der 15- bis 17-jährigen keinen Hauptschulabschluss.
•    Nur 2,3 % der Befragten besuchten ein Gymnasium.
•    Mit knapp 11 % besuchten im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung doppelt so viele Befragte eine Förderschule.
•    13 % der Befragten besuchten keinerlei Schule, innerhalb der Mehrheitsbevölkerung sind es unter 1 %.
•    Über 80 % der Befragten haben persönliche Diskriminierungserfahrungen.
Zugleich lässt sich feststellen, dass das persönliche Engagement für Bildung bei den deutschen Sinti und Roma nachweislich gestiegen ist und Bereitschaft für einen Bildungsaufbruch besteht.
Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), die ich leite, hat die Studie finanziert. Unser Anliegen ist es nun, dass Politiker in Bund und Ländern die Ergebnisse der Studie zum Anlass nehmen, die Situation möglichst rasch zu ändern. Die Studie gibt dazu konkrete Empfehlungen:
-    eine zukunftsweisende Minderheitenpolitik, die der Lebenssituation von Sinti und Roma gerecht wird;
-    nachhaltige Anerkennungs- und Teilhabestrukturen für Sinti und Roma gesellschaftlich verankern, um gelingende Bildungsprozesse in der Frühförderung, Bildung, Ausbildung und Erwachsenenbildung zu ermöglichen;
-    ein nationaler Aktionsplan für eine Generationen übergreifende Bildungsförderung für Sinti und Roma.
Es bedarf noch enormer Anstrengungen, um die Gruppe der national anerkannten Sinti und Roma, von denen wir glaubten, sie seien gut integriert, tatsächlich an Bildung und gesellschaftlichem Leben partizipieren zu lassen.
Hinzu kommen die Roma, die als Flüchtlinge oder als EU-Bürger in Deutschland leben. Nach dem Exodus aus dem zerfallenen Jugoslawien der 90er Jahre ist in Deutschland eine Generation von Roma herangewachsen, die sich selbst organisiert und eine Art zweite Bürgerrechtsbewegung nach der von deutschen Sinti und Roma vor mehr als 30 Jahren initiierten Bürgerrechtsbewegung hervorgebracht hat. Ein Beispiel dafür ist das bundesweite Jugendnetzwerk von Roma und Nicht-Roma Amaro Drom. Der Verein organisiert unter anderem Hausaufgabenhilfe für Romakinder und engagiert sich gegen Abschiebungen von Roma.
Ein weiteres ermutigendes Zeichen ist die Initiative des Berliner Stadtbezirks Neukölln, der in den Sommerferien Kurse für Roma anboten, um ihnen einen besseren Start in das kommende Schuljahr zu ermöglichen. Viele Kinder haben begeistert daran teilgenommen.
All das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier politische Anstrengungen vonnöten sind, die eine tatsächliche Chancengleichheit durchsetzen.
Auf europäischer Ebene  hat sich Deutschland bislang sehr zögerlich verhalten. 
Die Europäische Kommission beschloss 2011 einen Rahmenplan zur Integration der Roma bis 2020. Dieser wurde vom Europäischen Rat gebilligt und so sind alle  Mitgliedsländer der EU aufgefordert,  nationale Strategien zur Integration der Roma zu konzipieren bzw. zu überarbeiten und sie der Kommission bis Ende 2011 vorzulegen. Im Frühjahr 2012 wird die Kommission diese nationalen Strategien bewerten und dem Europäischen Parlament und dem Rat über die erzielten Fortschritte berichten. Dabei sind mindestens vier Kernbereiche abzudecken:  Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge und Wohnraum. Deutschland wird dem nicht nachkommen, da die Sinti und Roma in Deutschland gut integriert seien.
Als international tätige Stiftung fördern wir seit 2004 gemeinsam mit dem Roma Education Fund (REF) Stipendien für Roma, die in Osteuropa studieren. Mittlerweile wurden über 500 Stipendien vergeben und es existiert erstmals eine – wenn auch kleine – Generation bestens ausgebildeter Roma in den Programmländern. Im Juni hatten wir drei Stipendiaten in der Stiftung EVZ zu Gast: eine Romni aus Russland, eine aus der Ukraine und einen Rom aus Moldawien. Sie berichteten eindrucksvoll von ihrem Willen, zu studieren und das Erlernte später beispielsweise als Juristin in den Dienst der eigenen Community zu stellen. Und selbst hier wurden die Stipendiaten nach der Veranstaltung mit primitiven Vorurteilen konfrontiert – nicht offen vor dem Publikum, sondern direkt unter vier Augen.
Bei den Befragungen deutscher Sinti im Rahmen der erwähnten Bildungsstudie gab eine 32jährige Romni zu Protokoll: „Meine Mutter hat ja überhaupt keine Schule besucht. Mein Vater hat auch keine Schule besucht. (…) Meine Großmutter war ja Verfolgte im Krieg und sie hat es mit erlebt, dass die Kinder damals, die Sinti- und Roma-Kinder, aus den Schulen deportiert wurden und die Kinder wurden niemals wieder gesehen, und aus dieser Erinnerung heraus hat sie dann ihre Kinder überhaupt nicht in die Schule geschickt, aus Angst die Kinder könnten wegkommen und sie würde ihre Kinder nie mehr wiedersehen.“ 
Hier wird deutlich, welche Nachwirkungen der nationalsozialistische Genozid an den Sinti und Roma hat. Die Studie über die Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma belegt eindrücklich, dass traumatische Erfahrungen – hervorgerufen durch Verfolgungen und systematische Massenmorde – in den Familien weitergegeben werden und sich bis heute auswirken. Auch das Recht auf Bildung wurde von den Nationalsozialisten systematisch missachtet und die wenigen Überlebenden hatten allesamt einen gebrochen Bildungsweg. Wir alle wissen, wie wichtig die familiäre Unterstützung bei der Schulbildung ist. Doch wie soll diese geschehen, wenn die Eltern oder Großeltern als Kinder von der Schule ausgeschlossen oder direkt aus den Schulen heraus in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden? Aus dem Genozid an den Sinti und Roma erwächst uns also eine besondere, historische Verantwortung.
Weiterhin haben alle Generationen Diskriminierung erfahren. So berichtete ein 57jähriger Sinto: „In der Schule hatte ich eine Klassenlehrerin, … die hat ganz klar damals zu mir gesagt, du bist Zigeuner, du bist nicht viel wert, ich soll meine Ohren waschen, soll mich waschen, (…) und aus mir wird sowieso nie etwas.“  Von einem Lehrer wird der Ausspruch berichtet: „‘Wenn ich so darüber nachdenke, hat der Hitler recht gemacht.‘“ Dies berichtete ein 20jähriger Sinto. 
Hänseleien, Beleidigungen und Benachteiligungen bei Ämtern, bei der Arbeits- oder Wohnungssuche sind Diskriminierungserfahrungen, die die Mehrheit der Befragten gemacht hat. Dies geht bis zu gewalttätigen Übergriffen: So wurde Ende Juli dieses Jahres ein Brandanschlag auf ein Mehrfamilienhaus in Leverkusen verübt. Es bleibt also viel zu tun, auch in Deutschland.
Die europäische Roma-Plattform hat dafür Prinzipien aufgestellt, die uns allen zur Orientierung dienen können:
1.    Konstruktive, pragmatische und nicht-diskriminierende Politik,
2.    Eindeutige, aber nicht ausschließende Ausrichtung,
3.    Interkultureller Ansatz,
4.    Auf die Mehrheit hinzielen,
5.    Bewusstsein für die geschlechtsspezifische Bedeutung,
6.    Transfer von Politik, die auf Eindeutigkeit beruht,
7.    Einsatz von Instrumenten der EU,
8.    Einbeziehung von regionalen und lokalen Behörden,
9.    Mitwirkung der Bürgergesellschaft,
10.    Aktive Teilnahme der Roma.
Dazu gestatte ich mir eine persönliche Anmerkung: Der letzte Punkt, die aktive Teilnahme der Roma,  müsste eigentlich an erster Stelle genannt werden.
Was die Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma betrifft, so werden wir als Stiftung EVZ vermutlich im Sommer  2012 danach fragen, was ein Jahr nach Erscheinen der Bildungsstudie verändert wurde. Hinsichtlich der dringenden Fragen, welche die Roma in ganz Europa betreffen, bedarf es nach vielen Papieren seitens der EU ihrer Verwirklichung auf staatlicher und lokaler Ebene. Wenn eine Roma-Organisation in Mazedonien und ein Gadje-Bürgermeister in Serbien sogar Gelder für Hausaufgabenhilfe für Romakinder aus EU-Mitteln akquirieren und damit sichtlich gute Arbeit leisten, sind das gute Ansatzpunkte. In Deutschland gilt es, nicht länger so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Diskriminierung ist nicht in Ordnung. Es bleibt viel zu tun.