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Hilde Kieboom

Gemeinschaft Sant’Egidio, Belgien
 biografie

Unser Nachdenken über die Familie heute findet im Herzen des Interreligiösen  Friedenstreffens statt, das den bedeutsamen Titel „bound to live together“ trägt. Man kann das Zusammenleben sicher als eine der grössten Herausforderungen unserer globalisierten Zeit betrachten: zum einen weil wir immer zahlreicher werden auf unserem Planeten und wegen der grösseren Mobilität und der Migration. So werden alle Gesellschaften ein wenig multikulturelle und multireligiöse Werkstätten.
Und dennoch reagieren viele Zeitgenossen auf dieses neue Bedürfnis des dritten Jahrtausends mit Angst und Pessimismus. Man klagt darüber, dass die grössere Komplexität unserer Städte die eigene Identität mit ihren „traditionellen Werten“, wie zum Beispiel den der Familie, aufzulösen droht. Aber die Krise der Familie ist bereits viel früher als in dieser Zeit der Globalisierung begonnen. Mehr noch, ich frage mich, ob unsere Mühe mit verschiedenen Menschen zusammenzuleben auf  Bürgerebene, auf nationaler oder Weltebene, nicht genau in der Schwächung der Familie begründet ist. Denn sie ist die kleinste, aber alltägliche Schule des Zusammenlebens. Hier spreche ich über die Kernfamilie aber auch über Familie im grösseren Sinn. Die Weltreligionen fühlen, wenn auch auf verschiedene Art und Weise, die Berufung, die traditionelle Familie zu verteidigen. Sie rufen ihre Gläubigen zu einem anderen Leben auf: nicht der geläufigen materialistischen Mentalität des Marktes zu folgen, die dem wirtschaftlichen Profit mehr Wert zuschreibt als dem menschlichen Leben. Deshalb zeichnet sich die Aufgabe der Religionen immer deutlicher ab: erziehen oder neu erziehen hin zu einer spirituellen Tradition,  die den Menschen mit Gott verbindet und mit seinem Bruder, also erziehen zum Zusammenleben.
Die Familie wird durch die materialistische  Mentalität gedemütigt. Die Familie ist in der Tat diese Bindung der Kostenlosigkeit, wie Andrea Riccardi auf dem Kongress der Familien 2006 in Valencia in Spanien gesagt hat, und doch so sehr auf die Probe gestellt in der Konsumgesellschaft. Die Familie empfängt man als ein Geschenk, man wählt sie nicht aus. Die Christen finden das Fundament der Familie im Bild der Schöpfung der Welt wieder, wenn Gott sagt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm  entspricht.“(Gen 2, 18). Es scheint mir, dass die Krise der Familie, besonders in Europa in der Ablehnung und Unfähigkeit, den anderen als ein kostenloses Geschenk von oben anzunehmen, begründet liegt. Dies zeigt sich in der Verminderung der christlichen Ehen, der steigenden Zahl von Ehescheidungen (so lassen sich zum Beispiel in meinem Land, Belgien, drei von vier Ehepaaren scheiden), der niedrigen Geburtenrate in vielen europäischen Ländern und in der Vernachlässigung vieler kranker und alter Menschen. Die vorherrschende materialistische Logik dagegen pervertiert die Idee des Geschenks hin zu einer Idee des individuellen Rechts, das einzufordern ist. Wir werden Zeugen vielfältiger Formen von „unüblichen Situationen“, in die viele Kinder in Europa hineingeboren werden (in Belgien werden 40 % der Kinder ausserehelich geboren), aber auch von einer wenig verantwortlichen Praxis im bioethischen Bereich.
Jedes Leben ist heilig, und muss geliebt und behütet werden, vom Mutterschoss an, bis zum letzten Atemzug. In diesem Sinn hat der selige und geliebte Papst Johannes Paul II die Familie gerne „ein Heiligtum des Lebens“ genannt, das der entmenschlichenden Handlungen wie Abtreibung  und aktiver Sterbehilfe widersteht (Apostolische Ermahnung Familiaris Consortio, 1981, hervorgegangen aus der speziellen Versammlung der Bischofssynode über die Familie).
Jedes Leben, auch das schwächste, wie das einer Person, die behindert ist oder eines Kranken, ist kostbar in den Augen Gottes und ist eine Einladung, es mit Freude aufzunehmen. In der Familie als Heiligtum des Lebens lernt ein Kind, mit dem anderen zu leben: mit Vater, Mutter, Bruder oder Schwester, aber auch, warum nicht, mit Grossvater und Grossmutter, Onkel oder Tante.
Johannes Paul II fährt fort: „das Leben der alten Menschen hilft uns, die Skala der menschlichen Werte ins Licht zu bringen; es zeigt die Kontinuität der Generationen und überraschenderweise weist es auf die gegenseitige Abhängigkeit des Volkes Gottes“. Wir wissen wie wichtig für dasWachstum eines Kindes das Gefühl der Sicherheit und der dauerhaften Beziehung ist, besonders in einer Gesellschaft, in der viele Beziehungen vergänglich, provisorisch oder experimentell sind. Die Familie wird der erste Ort des gemeinsamen Schicksals im Sinn einer Begleitung für’s Leben. In der Familie ist der Ort, in der ein Kind das Alphabet der Liebe lernt, weil man lernt, den anderen zu respektieren und ihm Platz einzuräumen.
Die Familie, als Bindung der Kostenlosigkeit, ist auch der bevorzugte Ort für die Erziehung und des spirituellen Wachstums der Kinder und Jugendlichen. Die Erziehung und die Weitergabe der Werte setzen eine mütterliche oder väterliche Beziehung seitens der Eltern voraus.  Durch die antiautoritäre Erziehung nach 1968 und aufgrund einer zerstreuten Idee von Emanzipation, hat sich in den letzten Jahrzehnten bei vielen Eltern eine Ablehnung der Vaterschaft  entwickelt, weil man eine zu asymmetrische Beziehung mit den eigenen Kindern fürchtete. Um es mit dem deutschen Philosophen Peter Sloterdijk zu sagen: „ wir können nichts mehr weitergeben, weil wir keine Söhne, Töchter oder Schüler mehr haben. Auch die Kinder sind die Klienten ihrer Lehrer geworden. (...) Nun sind wir alle Waisen. Ohne Vater.“
Orientieren und Ermahnen sind aber Ausdruck der mütterlichen oder väterlichen Liebe. Im Hebräerbrief, schreibt der Apostel Paulus: „und ihr habt die Mahnung vergessen, die euch als Söhne anredet: Mein Sohn, verachte nicht die Zucht des Herrn, verzage nicht, wenn er dich zurechtweist. Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet. Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt? Würdet ihr nicht gezüchtigt, wie es doch bisher allen ergangen ist, dann wäret ihr nicht wirklich seine Kinder, ihr wäret nicht seine Söhne.“ (Hebr 12,5-8) In der Familie lernt man, die Vaterschaft anzunehmen und auf ausgeglichene Weise zu wachsen. Leider sehen wir heute viele „Bastarde“, man könnte sagen  Kinder, die durch niemanden erzogen wurden, Waisen der reichen Welt, denen sich niemand liebevoll mit einem entschiedenen Wort zuwendet. Der grosse orthodoxe Theologe Olivier Clement spricht, angesichts der jungen Generationen von Paris und anderen europäischen Städten, von „einer grossen Hungersnot, Hunger nach Sinn, nach Brot und nach Würde“ (Petite boussole spirituelle pour notre temps).  Während der gewalttätigen Ausschreitungen dieses Sommers in den Randgebieten von London oder vor einigen Jahren in Paris haben wir bemerken können, dass dies ein gefährlicher Prozess für die ganze Gesellschaft ist. Auch wenn andere mehr besondere Phänomene im Spiel sind, scheinen sie mir auch Ausdruck einer Generation zu sein, die weiss, dass sie nicht zählt, der sich niemand mit geduldigem Durchsetzungsvermögen genähert hat. Und zynischerweise ist die einzige „Vaterschaft“, die sie erwartet, die harte Repression, die ihnen natürlich nicht mehr Zukunft verschafft.
Sicher, Kinder erziehen ist heute komplizierter als früher: die Jugendlichen müssen jeden Tag tausend Entscheidungen treffen und sie sind vielen Versuchungen ausgesetzt, von Drogen bis zu Internetexzessen, bis hin zu vielen Gelegenheiten, die ihnen der Markt oder das Leben fern von der Familie anbieten. Man spricht viel von der Angst, sich heutzutage in  stabilen Beziehungen zu binden: andererseits ist man in anderen Bereichen bereit, grosse Risiken einzugehen (z. B. Das Finanzsystem mit den Börsenspekulationen, auch wenn es sich augenblicklich in der Krise befindet). Deshalb scheint mir, dass ein tieferliegendes Problem  die Schwäche der Familie begründet: unsere Welt des Wohlstands ist verblendet von einem „seltsamen Vergessens Gottes“ (Benedikt XVI beim Weltjugendtag in Köln 2005). Der Grund ist spirituell: wer sich Gott gegenüber nicht öffnet, erkennt sich nicht als Sohn und hat seinerseits Schwierigkeiten, Vater zu sein. Wer sich nicht für den Raum des Gebets öffnet, findet keine innere Erbauung und lehnt die Erziehung anderer ab. Wer nicht die Anstrengung der Bekehrung unternimmt, sieht nicht die Notwendigkeit der Vergebung. Wer sich nicht übt in der Zivilisation der Liebe, vermeidet jedes Opfer, das manchmal nötig ist zur Rettung der anderen.
 Es ist klar, dass auch die Familie unterstützt werden muss, um ein Heiligtum des Lebens und diese Bindung der Kostenlosigkeit zu sein, denn auch die Familie ist keine Insel.  Viele europäische Regierungen könnten und müssten mehr tun, um die Familie durch soziale, finanzielle und steuerliche Massnahmen zu unterstützen. (Es gibt in dieser Hinsicht einen zu grossen Unterschied zwischen den Staaten im Norden und denen im Süden der EU, eine Tatsache die teilweise die niedrige Geburtenrate in Südeuropa erklärt.) Aber grundsätzlicher denke ich an die Eingliederung der Familie in einen breiteren Kontext, in die Gemeinschaft der Gläubigen, in die Kirche selbst als Familie. Der Bischof von Terni, Monsignore Vincenzo Paglia, beschreibt dies gut in seinem dritten Pastoralbrief, der der Liebe gewidmet ist: „Die familiäre Liebe lässt überdies nicht zu, dass man sich hinter den vier Wänden des eigenen Hauses verschliesst. Wenn man sich einschliesst in der Familie, wird man schwächer bis zur Verunstaltung. Die Liebe Gottes, die geduldig und voll Vergebung ist, rettet unsere Familien, auch indem sie die Türen des eigenen Hauses für den, der es nötig hat, öffnet. Auch die Familie kann jener Herberge des Gleichnisses ähneln, die es versteht, aufzunehmen und zu beherbergen. So wird sie in der Liebe und in der Stabilität wachsen“ (La chiesa e la città, p. 198)
Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich meinen Beitrag beenden mit meiner persönlichen Erfahrung in der Gemeinschaft Sant’Egidio. In ihrem Schoss haben von Rom bis Malawi, von Barcelona bis Jakarta, viele Familien Kindern das Leben geschenkt, sie haben Waisenkinder oder Kinder in Schwierigkeiten aufgenommen durch Adoption, und haben Verwandte oder Eltern in Not bei sich aufgenommen. Darüberhinaus lebt sie die freudige Erfahrung, sich zur Familie mit den Armen zu machen, die oft keine Familie haben, indem sie sie in ihren Mensen empfängt und Wohngemeinschaften für sie öffnet: mit den Bettlern, den Ausländern, den Aidskranken, den Zigeunern, den Behinderten, den alten Leuten. Tatsächlich ist ein Grund warum die Armut auch in Europa wächst, die Abwesenheit der Familie. Darum sehen wir die Zahl der Armen zunehmen, die an unsere Türe klopfen. Durch die Gemeinschaft sind die Armen nicht mehr im Stich gelassen, sondern sind Teil der Familie.
Sehr bedeutungsvoll waren die Worte von Papst Benedikt als er genau am Tag der Heiligen Familie die Mensa der Armen in Rom besuchte. Er sagte, dass die Armen für die Gemeinschaft Sant’Egidio „nicht nur Freunde, sondern Familienangehörige sind. Ich bin zu euch genau am Fest der Heiligen Familie gekommen, weil sie euch in bestimmtem Sinn gleicht. Tatsächlich: die Familie Jesu ist von Anfang an Schwierigkeiten begegnet: sie hat die Mühe erlebt, keine Gastfreundschaft zu erfahren, sie war wegen der Gewalt des Königs Herodes gezwungen, nach Ägypten auszuwandern. Ihr wisst gut, was es bedeutet,Schwierigkeiten zu haben. Hier aber habt ihr jemanden, der euch gern hat und euch hilft, manch einer hat sogar seine Familie gefunden durch den zuvorkommenden Dienst der Gemeinschaft Sant’Egidio, die ein Zeichen der Liebe Gottes für die Armen gibt“ (27. Dezember 2009).
Indem sie Fremde aufnehmen, sich zur Familie derer machen, die keine Familie haben,  haben viele Schwestern und Brüder der Gemeinschaft Sant’Egidio die Erfahrung gemacht, Engel aufzunehmen (Hebr 13,2), die sie Gott wieder näher brachten, die ihnen den Traum Gottes für die ganze Menschheit offenbarten: Eine Familie ohne Grenzen, in Frieden am Tisch der Brüderlichkeit.