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Andrea Riccardi

Historiker, Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio
 biografie

Frau Bundeskanzlerin,
verehrte Oberhäupter der christlichen Kirchen und der großen Weltreligionen,
ich danke der Bundeskanzlerin für Ihren Besuch bei unserem internationalen Religionstreffen.
Unsere Begegnung hat am 11. September mit dem Gedenken an jenen tragischen Tag im Jahr 2001 begonnen, der die Theorie vom Kampf der Kulturen und Religionen zu bestätigen schien. Diese Theorie hat sich im vergangenen Jahrzehnt auf viele Entscheidungen ausgewirkt, beispielsweise in der Rehabilitierung des Krieges als politisches Mittel. Nach einem schwierigen Jahrzehnt müssen wir heute neue Wege gehen! Seit Jahren sind wir davon überzeugt, dass es einer verstärkten Beschäftigung mit dem Thema des Friedens bedarf, sei es in der internationalen Politik, sei es in Bezug auf soziale Fragen. Der Frieden betrifft die Wertvorstellungen des ganzen Volkes, ja aller Völker. Er ist eine komplexe Angelegenheit, ja ein Abbild für die Kultur des Zusammenlebens von unterschiedlichen Menschen in unserer Welt, deren Homogenität geringer und deren Distanzen kürzer geworden sind. Der Friede trägt spirituelle wie soziale Komponenten und kann nicht auf politische Faktoren reduziert werden.

Unsere Welt ist nicht zum Kampf oder zur Vormachtstellung einer Kultur bestimmt. Das Ziel der Menschheit ist die Kultur des Zusammenlebens, soweit es uns gelingen wird, sie zu verwirklichen. Ja, wir Menschen sind zum Zusammenleben bestimmt. Die Voraussetzung dafür ist Offenheit und Sympathie gegenüber den Unterschieden zwischen den Menschen, während die Welt immer näher zusammen rückt.

Zehn Jahre nach dem 11. September und inmitten einer schweren Wirtschaftskrise stellt sich uns die Aufgabe, eine Kultur des Zusammenlebens aufzubauen. Nichts anderes ist der Friede. Doch wer wird dieses Vorhaben verwirklichen? Unsere Welt ist derart komplex, dass viele Kräfte daran beteiligt sein werden. Erlauben Sie mir jedoch, zwei Kräfte zu nennen, die mir wesentlich erscheinen: die Religionen und Europa.

Die Religionen tragen eine Verantwortung. Zwar kann nicht geleugnet werden, dass sie in manchen Momenten der Geschichte zur Verstärkung von Konflikten beitrugen. Trotzdem können ohne die Kraft des Geistes weder Friede noch Kultur geschaffen werden. Dieser Illusion hatte sich der ideologische und konsumorientierte Materialismus hingegeben. Die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts wollten eine Gesellschaft ohne Geist errichten. Durch die Verfolgung der Religionen in den kommunistischen Ländern sollte der Raum für Gott beseitigt werden. Eines der Ziele der Schoah mit ihren schrecklichen Ereignissen war die Vernichtung eines Volkes, das Gott als Mittelpunkt seiner Identität und Erwählung betrachtet.

Manchmal ist das Flehen zu Gott die einzige und letzte Stimme des Protests gegenüber einer Macht, die totalitär geworden ist. Viele Geschichten von Märtyrern der jüngsten Vergangenheit erzählen davon. Doch nicht nur der Materialismus schafft eine Gesellschaft ohne Seele. Auch die Religionen selbst  können in dieser Richtung wirken, wenn sie totalitär werden und ihre eigene Seele verlieren. Menschen treten dann mit kämpferischem Eifer für Gott ein, über den doch das Evangelium schreibt: "Er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Mt 5,45).

Am historischen Gebetstag der Religionen für den Frieden 1986 in Assisi sagte Johannes Paul II.: "Hier - in Assisi - haben wir die einzigartige Bedeutung des Gebetes für den Frieden entdeckt. Ohne Gebet, ohne das Gebet von uns allen mit unserer jeweils eigenen Identität, ist Frieden nicht möglich". In diesem Geist, jenem friedlichen Geist von Assisi, dem Geist des Dialogs, sind wir nun seit fünfundzwanzig Jahren auf dem Weg. Den Religionen kommt die entscheidende Aufgabe zu, ihre Gläubigen zur Einheit der Menschheit aufzurufen. Wenn die Religionen zu den Gläubigen über Gott sprechen, bewegen sie sich im Rahmen einer universalen Bestimmung. Sie müssen das Wagnis dieses Auftrags auf sich nehmen und dürfen nicht ängstlich und verschlossen sein. Unser Treffen im Geist von Assisi geschieht auf der Basis der einigenden und universalen Funktion der Religionen. Indem man der Suche nach Einheit eine Seele verleiht, wird die Kultur des Zusammenlebens aufgebaut.

Zum zweiten möchte ich auf Europa eingehen: Beim Aufbau einer Kultur des Zusammenlebens spielt Europa eine entscheidende Rolle. Ich möchte die Anwesenheit von Frau Bundeskanzlerin Merkel, die mit Deutschland eine zunehmende Verantwortung in der Wirtschaftskrise übernommen hat, zum Anlass nehmen, um zu betonen: Die Welt braucht ein starkes und vereintes Europa. Die Schwäche Europas ist eine Tragödie. Europa ist dabei, zu versinken, doch nicht wie beim Untergang von Atlantis, sondern indem es sich Tag für Tag durch das Verschwinden der Träume seiner Bürger auflöst. Die Ursache dafür liegt im Mangel an Visionen und Hoffnungen, die den Versuch der Sicherung des eigenen Überlebens übersteigen. Als Folge davon entsteht eine kollektive Lebensweise ohne Ideale für die Zukunft. So werden die europäischen Länder gewissermaßen zu alten "Pensionären" inmitten der großen Geschichte.

Wir Europäer sind nicht "Geschiedene unter einem Dach", die allein die Vergangenheit vereint. Sonst wird man sich angesichts der Wirtschaftskrise zwar an Europa wenden, jedoch ohne dabei in den Aufbau eines gemeinsamen Hauses für die Zukunft zu investieren. Wollen wir Europäer auch in Zukunft existieren und die Welt von unserem Humanismus profitieren lassen, dann müssen wir dies gemeinsam tun. Deshalb muss in den Gedanken und Herzen das Ethos eines gemeinsamen europäischen Hauses gefestigt werden. Die Europäer sind dazu bestimmt, mehr zusammen zu leben und ihre Entscheidungen gemeinsam zu fällen.

Notwendig ist allerdings auch die Auseinandersetzung mit den Gefühlen von Völkern, die sich im Schraubstock der Krise befinden. Sie haben Angst vor großen Horizonten, weil sie sich sowohl vor der Invasion fremder Mächte als auch vor einer unbekannten Zukunft fürchten. Skrupellose Politiker nutzen diese Ängste aus. Man pflegt die Nostalgie vom kleinen Vaterland. Doch ohne Europa hat unsere "Heimat" keinen Bestand. Die Zukunft unserer Kultur braucht Europa. Sonst bleiben wir Gefangene der Tagesereignisse und liefern uns den Diskussionen unserer Länder aus, die lautstark geführt, aber schnell wieder vergessen werden. Hierdurch wird nicht Geschichte geschrieben, sondern nichts als Tageschronik. Die Folge davon ist der Verlust der eigenen Identität.

Europa muss wieder Geschichte schreiben. Es darf seinen Platz nicht unbesetzt lassen. Es darf seine gewachsene Autorität nicht aufgeben und statt dessen seine kleinen Staaten nur für sich selbst sprechen lassen. Das vereinte Europa ist entscheidend für eine Kultur des Zusammenlebens auf Weltebene. Maurice Schuman sagte: "Das vereinte Europa ist ein Ausblick auf die universale Solidarität der Zukunft". Wir kennen unsere Grenzen, die Grenzen unserer intellektuellen Klassen und Führungskräfte. Doch die europäische Sache ist zu ernsthaft, um sie in die Hände einiger weniger Personen zu legen. Für dieses Anliegen müssen in den Herzen Leidenschaft und Ethos gestärkt werden. Es fehlt nicht an Schwierigkeiten. Hillel, ein großer jüdischer Gelehrter der Antike, resignierte trotz allem nicht vor der Durchschnittlichkeit seiner Zeitgenossen, sondern sagte: "Wenn es an Menschen fehlt, bemühe du dich, Mensch zu sein!" Ja, Männer und Frauen, die wirklich menschlich leben, haben eine unwiderstehliche Macht in Händen.