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Ursula Kalb

Gemeinschaft Sant’Egidio, Deutschland
 biografie
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich danke sehr für die Möglichkeit, bei diesem Panel heute zu sprechen. Seit vielen Jahren arbeitet die Gemeinschaft Sant’Egidio mit Flüchtlingen und Migranten, viele sind unsere guten Freunde geworden und haben sich der Gemeinschaft angeschlossen. Ich grüße auch alle von ihnen ganz herzlich, die heute hier mit dabei sind.
 
Eine Willkommenskultur
Das Jahr 2015 war für Deutschland ein sehr bewegtes Jahr. Mehrere Hunderttausend Flüchtlinge kamen ins Land, vor allem nach dem berühmt gewordenen Ausspruch von Angela Merkel: „Wir schaffen das“. Es war ein menschlicher Akt. Vielleicht hatte man sich an die Flüchtlingsströme vor dem Fall der Mauer erinnert, als Tausende von DDR-Bürgern über Ungarn und Tschechien mit überfüllten Zügen in den Westen fuhren. Im Sommer 2015 herrschte eine Aufbruchsstimmung im Land, es wurden Willkommensschilder geschrieben, die Ankommenden mit Applaus empfangen und Tausende von Bürgern halfen, mit einer Freude und Hilfsbereitschaft, die niemand erwartet hatte. Es fand Begegnung statt. Die Nachrichten aus Syrien und anderen Kriegsländern bekamen ein Gesicht: Männer, Frauen und Kinder, tage- und wochenlang unterwegs, kamen endlich an. Der Aufruf von  Papst Franziskus an jede Pfarrei, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen, wurde von vielen befolgt. 
 
Zwei Jahre danach stellt sich die Frage, die das Thema unseres Panels ist, angelehnt an die Botschaft von Papst Franziskus zum Welttag des Flüchtlings und Migranten 2018 mit dem Titel: Die Migranten und Flüchtlinge aufnehmen, beschützen, fördern und integrieren“: Wie können wir der Aufgabe gerecht werden, Migranten zu retten, sie aufzunehmen und für ihre Integration sorgen? Weltweit sind 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Pro Tag fliehen durchschnittlich 28.300 Menschen, und meist werden sie von ärmeren Ländern der Welt aufgenommen.  Kriege, Gewalt, Naturkatastrophen sind nicht planbar und fordern ein schnelles Handeln, bei dem die Rettung von Menschenleben immer die erste Priorität sein muss. Doch dann folgt die Frage nach einer menschwürdigen und verantwortungsvollen Aufnahme. Nehmen wir die Chance wahr, in einer globalen Welt zu bestehen und sie zu gestalten? Haben wir genug Kreativität und nutzen die Möglichkeiten, die uns gegeben sind? 
 
1.Wir brauchen eine neue Sichtweise 
Bei seinem ersten Besuch auf der Insel Lampedusa 2013 nahm Papst Franziskus alle in die Verantwortung, als er sagte: „Wenn ich frage, wer ist schuld, werden alle sagen, ich nicht. Da es aber alle sagen, wird sich nie etwas verändern“, und er sprach von der globalen Gleichgültigkeit.
Ich glaube, wir brauchen heute eine neue Sichtweise, die von den Menschen ausgeht, die gezwungen sind zu fliehen. Der Flüchtling ist kein Problem, sondern er hat ein Problem, die Flüchtlingsströme sind keine Gefahr, sondern eine Folge von Krieg, Gewalt, Hunger und Naturkatastrophen, und das hat es in der Geschichte schon immer gegeben. Menschenleben zu retten ist keine kriminelle Handlung, sondern eine rechtlich verankerte Pflicht. Menschen aufzunehmen bringt nicht Verlust oder Verzicht mit sich, sondern ist eine Bereicherung und ein Akt, der Zukunft aufbaut. 
 
Die Angst baut Mauern
Die Flüchtlingsdebatten werden oft sehr emotional und polemisch geführt, die Ängste vieler Menschen spielen dabei eine große Rolle. Solange man die Situation der Migranten nur aus Schlagzeilen oder Fernsehspots kennt, machen sie uns Angst. 
Hinzu kommen natürlich die schrecklichen Terroranschläge, die genau das zum Ziel haben: Angst zu verbreiten. Beim Anschlag in Barcelona vor drei Wochen waren die Attentäter Jugendliche, der jüngste war 17 Jahre alt, in Spanien aufgewachsen, er radikalisierte sich innerhalb von zwei Monaten. So ist die Frage mehr: Wem überlassen wir das Feld, um mit Jugendlichen zu sprechen? Geben wir Orientierung und Antworten auf die Frage nach Identität, nach Sinn, nach Zukunft, nach der Sehnsucht nach Gemeinschaft und Familie? 500 Jugendliche aus 9 europäischen Ländern der Bewegung Jugend für den Frieden von Sant’Egidio traf sich eine Woche nach den Anschlägen in Barcelona unter dem Motto: „More youth, more peace“. Marco Impagliazzo, der Präsident von Sant’Egidio sagte ihnen: „Es ist legitim zu träumen, wenden wir dieses Recht an, bekämpfen wir die Angst“. Die Stadt Barcelona tat es, auf den Schildern war zu lesen: Nein zur Islamophobie, nein zur Gewalt. Es war die Entscheidung gegen die Rache und für den Frieden. Angst baut Mauern. Und in Deutschland wissen wir zu gut, dass man Mauern an einem Tag aufbaut und es 30 Jahre dauert, bis sie wieder abgebaut wird. Angst vergeht dann, wenn man nicht vor dem Leid flieht. Angst wird besiegt in der direkten Begegnung.
 
Die humanitären Korridore
An dieser Stelle möchte ich auf das gemeinsame Programm der Gemeinschaft Sant’Egidio mit der Waldensertafel und der evangelische Kirche in Italien aufmerksam machen. Es trägt den Titel: „Humanitäre Korridore“. Vor kurzem hat es auch in Frankreich begonnen. Entwickelt wurde es aus der dringenden Notwendigkeit, die todbringenden Überfahrten von Flüchtlingen über das Mittelmeer zu stoppen, bei denen seit 2014 über 24 000 Menschen gestorben sind. 900 Flüchtlinge kamen bisher mit dem Projekt auf legalem Weg sicher nach Italien. Das Projekt gibt vor allem vunerablen Personen die Möglichkeit einer legalen Einreise in ein europäisches Land mit Hilfe humanitärer Visa. Es richtet sich an Menschen mit besonderem Schutzbedarf wie Kinder, schwangere Frauen, Kranke und alte Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg in Drittländer geflohen sind. Gemeinsam mit diesen Personen können auch ihre Familien einreisen, so dass sie nicht isoliert in dem Aufnahmeland leben, sondern von Familienanagehörigen versorgt werden können. Das Projekt bekämpft indirekt das kriminelle Schleuserwesen. Es bezieht viele Menschen guten Willens mit ein: Orden, Kirchen, Privatpersonen und Organisationen, die sich um die geflüchteten Familien und ihre Integration kümmern. Dabei wird Wert darauf gelegt, dass die Geflüchteten in kleinen Gruppen in der Nähe der einheimischen Bevölkerung wohnen. Die Integrationsmaßnahmen beginnen sofort nach der Einreise mit Sprachkursen und Hilfen im Alltag. Vielleicht geht ja von diesem Friedenstreffen ein Weg hin zu den humanitären Korridoren auch hier in Deutschland. Das wäre ein schönes Signal. 
 
Was Integration fördert
Das Projekt „Humanitäre Korridore“ hat neben der Ermöglichung der legalen Einreise nach Europa das Ziel, Geflüchtete mit Hilfe der Zivilgesellschaft möglichst gut zu integrieren. Einige wichtige Elemente der Integration habe ich in diesem Zusammenhang gerade schon benannt: Sofortige Maßnahmen der Integration wie Sprachkurse und Möglichkeiten zu arbeiten stehen an erster Stelle. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft schafft Begegnung und verhindert die Ghettoisierung, Aus- und Weiterbildung zu schaffen. Die Wohnsituation ist ebenfalls entscheidend für eine gelungene Integration, große Sammeleinrichtungen sind nicht förderlich. 
Einer der wichtigsten Faktoren für die Integration ist der schnelle Familiennachzug aus den Herkunftsländern oder auch eine reibungslose Familienzusammenführung innerhalb Europas. Wer Angehörige in Europa hat, sollte baldmöglichst zu ihnen ziehen können. Eine Ausweitung des Familiennachzugs auf die Gesamtfamilie wäre von großer  Bedeutung auch aus einem humanitären Aspekt heraus, denn die Familienzusammenführung ist bisher nur für Kinder, Ehepartner und Eltern minderjähriger Kinder möglich. Erwachsene Geschwister sind ausgenommen, ebenso die Eltern Erwachsener. Dies führt zu großem Leid unter den Geflüchteten, die mit der Sorge etwa um ihre Eltern, die noch im Kriegsland sind, leben müssen und nichts für sie tun können. 
 
Von Integration profitieren alle
Integration hat nicht nur einen großen Wert für die, die kommen, sondern ebenso für die, die schon da sind, nämlich uns. Die Anwesenheit von Menschen anderer Kulturen ist eine große Bereicherung. Migranten zeigen uns den Wert unserer Länder, in denen Demokratie, Menschenrechte und Freiheit herrschen. Europa ist eine alte Dame geworden, der demographische Wandel liegt uns im Nacken. Wir brauchen junge Leute, die meist voll Energie auf den Arbeitsmarkt drängen und arbeiten möchten. 
Die Erfahrungen der Gemeinschaft Sant’Egidio weltweit können vielen eine große Hoffnung geben. Die Jugendlichen beim Treffen der Gemeinschaft in Barcelona waren ein wahres Spiegelbild ihrer Gesellschaften: Sie kamen aus sieben Ländern, stammen aber aus 20 verschiedenen Nationen, darunter Syrien, Irak und Äthiopien. Vielleicht sind uns die Jugendlichen einen Schritt voraus. Sie schauen gemeinsam in die Zukunft und wollen eine Welt im Frieden aufbauen. Viele Jugendliche der Gemeinschaft Sant’Egidio, unter ihnen zahlreiche Migranten, besuchen alte Menschen in Pflegeheimen. So bekommen einsame alte Menschen Enkel geschenkt und blühen auf durch die Begegnung. Die alten Menschen verstehen diese jungen Flüchtlinge, denn sie wissen, was Krieg und Flucht bedeutet. 
Sehr verehrter P. Solalinde, Sie schreiben in Ihrem Buch“La bestia“ „Gleichzeitig aber sind die Migranten Pioniere der Zukunft. Sie nehmen mit ihrer beharrlichen Widerstandskraft die Möglichkeit für eine neue Gesellschaft vorweg. Warum? Weil sie den Mut haben, etwas zu riskieren. Die Migranten riskieren alles ganz und gar, sie gehen vorwärts, sie laufen, sie vertrauen in eine Kraft die, wie auch immer wir sie nennen, nur Gott geben kann. Ihr unbesiegbares und leidvolles Reisen erinnert uns, die wir uns nunmehr eingerichtet haben und uns an unsere Sicherheiten klammern, daran, dass wir alle Pilger sind. Alle sind wir Migranten.“
Vielleicht sollten wir mehr auf die Jugendlichen hören und mehr auf die Flüchtlinge, denn vielleicht sind sie uns voraus, mit ihrem Mut das Alte zu verlassen und in ihrer Hoffnung nach Menschlichkeit. Vielleicht sind sie die Propheten einer vereinten Welt, denn sie zeigen uns, dass kein Land eine Insel ist.